Press trip Nijmegen prof. dr. Thomas Maal, 3D-Lab, Radboud UMC
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Kategorie:Toolbox

Prothesen aus Nimwegen für die Ukraine - 4. Dez. 2025

Wenn ein 19-jähriger Soldat im ukrainischen Lwiw seine ersten Schritte auf einer neuen Beinprothese macht, steckt ein Stück Nimwegen in jedem dieser Schritte. Am Tag zuvor wurde sein amputierter Unterschenkel gescannt, über Nacht hat ein 3D-Drucker die passgenaue Prothesenschale gefertigt, am nächsten Morgen beginnt bereits die Reha. Entwickelt wurde dieser gesamte Workflow – vom Scan über die KI-gestützte Formgebung bis zur druckfertigen Datei – im 3D-Lab des Radboud UMC, der Universitätsklinik Nimwegen gleich hinter der deutschen Grenze. Von dort aus ist die Technologie erst nach Sierra Leone gegangen, wo es an Expert*innen und Geld für teure Prothesen fehlt, und nun in die Ukraine, wo Tausende verwundete Menschen dringend auf eine Chance warten, in ihren Alltag zurückzukehren.

KI und Software als ideale Werkzeuge für anwendbare Lösungen

Der Ort, an dem diese Geschichte beginnt, ist auf den ersten Blick erstaunlich unspektakulär: ein Labor direkt über dem Haupteingang des Radboud UMC. Genau dort wollte Prof. Thomas Maal sein 3D-Lab haben und nicht im abgeschotteten Forschungsturm, sondern „auf dem Weg“ der Ärztinnen und Ärzte, damit sie einfach hereinkommen, Probleme schildern und man dann gemeinsam Lösungen entwickeln kann. „Unser Ziel in der Forschung ist immer, dass unsere Ergebnisse in der täglichen klinischen Praxis umgesetzt werden und wirklich Wirkung entfalten“, sagt Maal. „Manchmal sind wir erfolgreich, manchmal nicht so erfolgreich, wie wir es gern wären. Und KI ist eine sehr hilfreiche Technologie, mit der wir immer mehr arbeiten.“

Maal beschreibt ein im Prinzip ganz einfaches Vorgehen: „Es beginnt mit einem klinischen Problem, für das eine skalierbare Lösung gefunden werden soll.“ Skalierbar heißt: nicht nur eine aufwendige Sonderlösung für einen einzelnen Fall zu finden, sondern einen reproduzierbaren Ablauf zu entwickeln, der sich mit vertretbarem Aufwand in den Alltag einer Klinik integrieren und auch in anderen Krankenhäusern und sogar Ländern einsetzen lässt. Konkret heißt das: „Eine Chirurgin oder ein Chirurg kommt mit einem konkreten Problem ins Labor, es folgt ein Pilotprojekt, Nachjustieren, Studien und eine frühe Bewertung, ob die Neuerung wirklich wirkt – medizinisch wie ökonomisch. Erst dann wird sie in den klinischen Alltag implementiert und, wenn möglich, weltweit umgesetzt.“ KI und Software seien dafür ideale Werkzeuge.

Ein neuer Schädel für ein Baby – präzise geplant am Bildschirm

Persreis Nijmegen

Herzstück des Labs ist die Kombination aus hochauflösenden 3D-Scans, Planungssoftware und 3D-Druckern. Statt Standardlösungen „von der Stange“ entstehen patientenspezifische Modelle, Schablonen und Implantate, von der Schädelchirurgie bei Säuglingen über Gesichtschirurgie und plastische Rekonstruktionen bis zu Prothesen in Ländern mit schlechter Versorgungsstruktur. Besonders eindrücklich schildert Maal die Operation von Babys mit sogenannten kraniofazialen Fehlbildungen. Wenn sich Schädelnähte zu früh schließen, wächst der Kopf in die Länge, der Druck auf das Gehirn steigt, Entwicklung und Gesundheit des Kindes sind bedroht. Ein Eingriff wird unvermeidlich. Früher glich diese Operation einem dreidimensionalen Puzzle im OP: Der Schädel wurde geöffnet, Knochenstücke herausgelöst, neu angeordnet und wieder befestigt, mit viel Erfahrung, aber auch viel Unsicherheit.

Heute sieht das dank 3D-Lab anders aus. Zunächst werden gesunde Babys mit einem schnellen, strahlungsfreien 3D-Scan erfasst. Aus dieser wachsenden Datenbank entsteht ein Profil für das individuelle Kind. Am Computer wird der neue Schädel dann virtuell geplant, die Knochenstücke werden digital zugeschnitten und in ihrer neuen Position angeordnet. Auf Basis dieser Planung entstehen schließlich passgenaue 3D-Schablonen, die den Chirurg*innen im OP genau zeigen, wo sie schneiden und wie sie die Schädel-Teile wieder zusammensetzen müssen. Das Ergebnis sind kürzere OP-Zeiten und deutlich weniger Blutverlust. So wenig sogar, dass kleine Patient*innen häufig keine Transfusion mehr benötigen. Und sie können das Krankenhaus auch deutlich schneller wieder verlassen. Für die Familien macht es den Unterschied aus zwischen einem angstbesetzten, schwer kalkulierbaren Eingriff und einer planbaren Operation mit messbar besseren Ergebnissen.

Globaler Impact: Prothesen in Sierra Leone und der Ukraine

In Sierra Leone sind hochwertige Prothesen rar, Fachkräfte knapp, die Mittel begrenzt. Das 3D-Lab sammelte Daten von Orthopädieunternehmen in den Niederlanden, Scans von Amputationsstümpfen und dazugehörige, optimal angepasste Prothesenschalen. KI lernt aus diesen Paaren, wie sich aus einem Roh-Scan eine gutsitzende, belastbare Schale formen lässt. Vor Ort brauchen Mitarbeitende heute nur noch einen einfachen 3D-Scanner, einen Laptop mit der Nimwegener Software und einen 3D-Drucker mit biokompatiblem Material. In zwei bis drei Minuten ist das 3D-Modell der Schale erstellt, über Nacht wird sie gedruckt, am nächsten Tag beginnt die Reha. „Mittwochs ist mein Militär-Tag. Dann versuchen wir, diese Techniken auch in der militärischen Gesundheitsversorgung zu implementieren.“ Etwa in der Ukraine, wo Maal und sein Team Prothetiker*innen in Lwiw nahe der polnischen Grenze geschult haben. Eine Technologie, die in Nimwegen entwickelt und dort gründlich getestet wurde, bevor sie in Krisenregionen zum Einsatz kommt.

Auch in anderen Abteilungen des Radboud UMC hat KI den Klinikalltag bereits konkret verändert. Radiologin Merel Huisman arbeitet in einer Abteilung, in der an einem Tag hunderte Röntgenbilder gelesen werden müssen. Oft mit nur wenigen Minuten Zeit pro Fall. Hier kommen KI-Systeme als „zweiter Leser“ zum Einsatz, etwa in der Brustkrebsfrüherkennung: Eine in Nimwegen entwickelte Software unterstützt die Radiolog*innen in Screening-Programmen, steigert nach Studienlage die Entdeckungsrate von Tumoren und verkürzt gleichzeitig die Zeit für die Auswertung der Bilder.

Vom Dauer-Monitoring bis zum Herzkatheter: Wie Daten Medizin verändern

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Wie sich Datenströme in bessere Überwachung und Therapie übersetzen können, zeigen die Projekte von Internist Bas Bredie und Kardiologe Jos Thannhauser. Auf den Normalstationen setzt Radboud UMC seit 2018 auf ein System zur kontinuierlichen Messung von fünf sogenannten Vitalparametern: Kleine Sensoren erfassen rund um die Uhr Herz- und Atemfrequenz, Sauerstoffsättigung und andere Werte, ohne die Patient*innen ständig zu stören. Wo sonst nur einige Messungen pro Arbeitsschicht entnommen werden, entstehen hier dichte Kurven, die frühzeitig Verschlechterungen anzeigen. Studien zufolge gehen unerwartete Verlegungen auf die Intensivstation dadurch deutlich zurück, während KI-Modelle auf Basis dieser Daten künftig den weiteren Krankheitsverlauf vorhersagen sollen.

Und auch ein weiteres Beispiel zeigt die Effizienz von KI im Klinikalltag: Im Herzkatheterlabor analysiert die Software OCT-AID hochauflösende Aufnahmen der Herzkranzgefäße. Sie erkennt und markiert automatisch die Gefäßwände und Ablagerungen in den Arterien, stellt gefährliche Veränderungen fest und erstellt automatisierte Berichte, die den Ärzt*innen helfen, Stents präziser zu platzieren und das Risiko zukünftiger Probleme besser einzuschätzen.

KI als Werkzeug im modernen Klinikalltag

All diese Beispiele zeigen, dass KI im Radboud UMC kein Zukunftsversprechen und kein Selbstzweck ist, sondern längst Teil des medizinischen Alltags – überall dort, wo sie nachweislich hilft. Vom 3D-Scan, der eine passgenaue Prothese möglich macht, über Algorithmen, die Radiolog*innen beim Erkennen von Tumoren unterstützen, bis zu Sensoren und Bildanalysen, die Verschlechterungen früh anzeigen, soll sie vor allem eines: Behandlungen sicherer, planbarer und menschlicher machen. In Nimwegen entsteht so ein Klinikbetrieb, in dem digitale Werkzeuge nicht die Ärzt*innen ersetzen, sondern sie entlasten. Und Patient*innen von Sierra Leone bis Lwiw direkt profitieren.

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