Zukunftsmedizin aus Utrecht - 30. Okt. 2025
Auf den ersten Blick liest es sich wie eine moderne Version von Mary Shelleys Frankenstein: Aus den Körperzellen von Patienten werden im Labor „Organoide“ gezüchtet – Mini-Organe. Was sich zuerst etwas gruselig anhört, ist tatsächlich eine bahnbrechende wissenschaftliche Errungenschaft, die im Science Park der niederländischen Stadt Utrecht entwickelt wurde.
Hier, im Hubrecht-Institut des Science Parks, begann alles mit einem Zufall. Der Molekularbiologe und Stammzellforscher Hans Clevers (68) und sein Team wollten verstehen, wie sich Zellen im Darm erneuern. Und entdeckten dabei etwas, das die Medizin verändern soll: „Man hatte jahrzehntelang geglaubt, dass normale Zellen sich im Labor nicht dauerhaft vermehren können. Nur Krebszellen wachsen unbegrenzt – das war die Lehrmeinung. Aber wir haben gezeigt, dass gesunde Stammzellen das ebenfalls können, ohne bösartig zu werden“, sagt Clevers.
Der Durchbruch kam, als Clevers’ Mitarbeiter Toshio Sato eines Tages im Labor kleine, perfekt geformte Strukturen unter dem Mikroskop entdeckte. „Wir wollten eigentlich nur herausfinden, ob wir die Stammzellen finden können. Stattdessen sahen wir unter dem Mikroskop plötzlich kleine Organe wachsen – perfekte Mini-Versionen des Darms. Das war der Moment, in dem wir verstanden: Hier beginnt etwas völlig Neues.“
Medizin ohne schädliche Nebenwirkungen und ohne Tierversuche
Heute lassen sich solche Organoide aus erwachsenen Stammzellen züchten: Mini-Lebern, Mini-Lungen oder Mini-Tumoren, die echte Organfunktionen imitieren. Dies ist der Anfang einer Revolution in der Medizin - die Erforschung von Krankheiten am lebenden Menschen wird ersetzt durch die Erforschung von Mini-Organen im Labor: „Anstatt einem Patienten ein Medikament zu geben und abzuwarten, ob es wirkt, kann man jetzt alle Medikamente an den Krebszellen des Patienten testen und herausfinden, welches das Beste ist“, erklärt Clevers. Ohne schädliche Nebenwirkungen für den Patienten und auch mit dem Potenzial, Tierversuche eines Tages weitgehend zu ersetzen.
Das Hubrecht-Institut ist dabei kein isoliertes Labor, sondern Teil eines umfassenden medizinischen Netzwerks. Unter dem Namen Cancer Utrecht arbeiten sechs Kliniken und Forschungseinrichtungen des Science Parks eng zusammen, nämlich das Universitätsklinikum Utrecht (UMCU), das Princess Máxima Center for Pediatric Oncology, die Fakultät für Tiermedizin, das Westerdijk-Institut, die Universität Utrecht und das Hubrecht-Institut selbst. Gemeinsam verfolgen sie ein Ziel: Krebs schneller zu erkennen, präziser zu behandeln und ihn eines Tages zu besiegen.
Utrecht: Wenn Forschung zur Allianz wird
„Die Idee zu Cancer Utrecht entstand, als mir bewusst wurde, welch einzigartiges Ökosystem wir hier haben, sechs Institutionen, alle auf einem Quadratkilometer, die sich gegenseitig ergänzen: Grundlagenforschung, Tiermedizin, Kinderonkologie, öffentliche Gesundheit und Spitzenmedizin. Diese Nähe ist ein Geschenk, und man muss sie nur nutzen“, sagt Prof. Dr. Elsken van der Wall (65), Initiatorin der Initiative und Leiterin des strategischen Krebsprogramms in Utrecht. Die Vision: ein Netzwerk, das klinische Erfahrung mit Grundlagenforschung, KI-Analyse und gesellschaftlichem Wissen verbindet. Denn Krebs sei längst keine rein medizinische Herausforderung mehr, sondern ein Phänomen, das Ethik, Recht, Psychologie und Umweltfragen gleichermaßen betreffe, sagt sie.
Van der Wall erinnert daran, wie dringend dieser Schulterschluss gebraucht wird:
„Seit 2008 ist Krebs die häufigste Todesursache in den Niederlanden – noch vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wir haben andere Krankheiten besser in den Griff bekommen, aber die Zahl der Krebspatienten steigt weiter, und sie wird bis 2035 um 20 Prozent zunehmen.“ Sie sieht darin keine düstere Prognose, sondern einen Auftrag: Wissenschaft, Politik und Gesellschaft müssen gemeinsam handeln, um Prävention, Diagnose und Therapie neu zu denken, genau das ist der Anspruch von Cancer Utrecht.
Wenn KI im Operationssaal mithilft
Im Princess Máxima Center, dem größten Kinderkrebszentrum Europas, zeigt sich, wie wissenschaftliche Innovation direkt in klinische Praxis übersetzt wird. Hier arbeiten Prof. Dr. Eelco Hoving, Neurochirurg und Leiter der pädiatrischen Neuroonkologie, und der Bioinformatiker Prof. Dr. Jeroen de Ridder (44) Seite an Seite, unterstützt von künstlicher Intelligenz. Sie haben ein bahnbrechendes neues Verfahren für die Operation von Gehirntumoren bei Kindern entwickelt. „Während einer Gehirnoperation bei einem Kind muss der Chirurg entscheiden, wie viel Tumorgewebe er entfernen kann. Schneidet man zu wenig, wächst der Tumor nach; schneidet man zu viel, drohen schwere, irreversible Schäden. Diese Entscheidung hängt davon ab, um welche Tumorart es sich handelt. Und das mussten wir bisher erraten“, erläutert Jeroen de Ridder vom Universitätsklinikum Utrecht.
Um dieses Rätsel zu lösen, hat sein Team ein Verfahren entwickelt, das Medizin und Technologie auf bislang einzigartige Weise verbindet. „Mit der sogenannten Nanoporen-Sequenzierung können wir das Erbgut eines Tumors noch während der Operation ermitteln – in Echtzeit“, sagt de Ridder. In einem kleinen Sequenziergerät werden dabei DNA-Fäden der Tumorzellen durch winzige Poren gezogen. Anhand feiner elektrischer Signale erkennt das System charakteristische Mutationsmuster im Erbgut und kann diese einer bestimmten Tumorart zuordnen: ein Blick ins Innenleben der Zelle. Die Analyse läuft dabei parallel zur Operation. Innerhalb von Minuten liefert der Algorithmus „Sturgeon“ eine molekulare Diagnose, die den Chirurgen bei seiner Entscheidung unterstützt. „Früher warteten wir vier Tage auf die molekulare Analyse und wussten erst hinterher, ob wir während der OP richtig entschieden hatten“, erinnert sich Eelco Hoving. „Heute wissen wir schon im Operationssaal, womit wir es zu tun haben und können sofort die optimale Strategie wählen. Das ist ein echter Wendepunkt für die Kinderchirurgie.“
Der Utrecht Science Park als Labor der Zukunft
Was im Utrecht Science Park entsteht, ist mehr als ein Forschungsprojekt. Es ist ein Blick in die Zukunft der Medizin. Hier arbeiten WissenschaftlerInnen, ÄrztInnen und IngenieurInnen Seite an Seite daran, Krankheiten zu verstehen, bevor sie ausbrechen, und Therapien zu entwickeln, die auf jeden einzelnen Menschen zugeschnitten sind. Es ist eine neue Ära der Medizin – präziser, verantwortungsvoller und menschlicher als je zuvor. (NBTC)